
Unfertig heißt nicht: unvollständig
Warum du nicht alles zu Ende zeichnen musst – und was dabei sichtbar wird
Liebe Leserin, lieber Leser,
du kennst das bestimmt: Du skizzierst mit Hingabe, bist mittendrin – und plötzlich passiert’s.
Du verlierst dich im Detail. Alles wird eng, präzise, korrekt. Und irgendwie… langweilig.
Dabei wolltest du doch genau das Gegenteil: locker, lebendig und intuitiv arbeiten.
Was fehlt? Raum. Offenheit. Mut zur Lücke.
Denn manchmal ist es genau das, was ein Bild besonders macht: die Stellen, die du nicht zeichnest.
Flächen zuerst – nicht Linien
Ich weiß, das klingt ungewöhnlich. Aber es wirkt.
Probiere mal, dein Bild nicht mit Konturen zu beginnen.
Starte stattdessen mit den dunkelsten Flächen – dort, wo die höchste Dichte im Motiv liegt.
Ich lege den Farbstift flach aufs Papier und bewege ihn in kleinen Kreisen.
Von innen nach außen, ganz vage, fast neblig.
Ohne harte Ränder. Ohne Details.
So entstehen nicht nur Tonwerte und Proportionen.
Ich lasse automatisch Raum. Raum für Licht. Für Pausen. Für Wirkung.
Ein schönes Beispiel dafür ist meine Skizze der Cathédrale de la Major in Marseille.
Die Kathedrale selbst ist fast weiß. Ich habe sie nicht gezeichnet – ich habe sie entstehen lassen.
Ihre Silhouette entstand, weil ich einen dunkelblauen, ziemlich stumpfen Buntstift flach auf das Papier gelegt habe, beginnend beim Hauptportal, weil das aus meiner Perspektive heraus in diesem Moment die dunkelste Fläche war.
Und dann habe ich ganz grob die Form des Kirchenschiffes und der Türme wachsen lassen. Zur Veranschaulichung bin ich später in die dunklen Flächen nochmal mit schwarz und rot reingegangen. Keine Scheu! Es ist dein Bild.
Zum Zeichnen der eigentlichen Kanten und Mauern habe ich dann einen Stift-Radierer genommen, also einen schmalen Radiergummi mit scharfer Kante. Auch der hat verhindert, dass ich allzu sauber und "richtig" zeichnen konnte.
Am Ende noch ein paar menschliche Silhouetten als grobe Formen ergänzt, fertig.
Für eine bessere Auflösung hier im Newsletter habe ich dir die Skizze nochmal digital erstellt.
Mehr Zeit hatte ich nicht und mehr Aufmerksamkeit konnte ich der Kathedrale auch nicht widmen, weil wir weiterlaufen wollten. Aber ich habe den Moment eingefangen und werde mich immer daran erinnern. Auch ohne die zweifellos schönen Details der Fassade und Türme.
Unfertig heißt: offen lassen
Ein unfertiges Bild ist kein unvollständiges Bild.
Es ist eine Einladung: an die Fantasie. An die Wahrnehmung. An die Betrachtung.
Gerade im Urban Sketching oder Mixed Media darfst du großzügig mit Lücken umgehen.
Sie machen dein Bild lebendig – und dich freier.
Probiere es aus – mit dieser kleinen Übung:
- Suche dir ein Motiv mit starkem Hell-Dunkel-Kontrast (z. B. ein weißes Gebäude, ein roter Traktor auf grauem Feldweg).
- Beginne nicht mit Umrissen. Starte mit der dunkelsten Fläche im Bildzentrum.
- Taste dich flächig nach außen vor – ohne Details.
- Spare helle Bereiche bewusst aus.
- Nutze Linien erst am Ende – nur dort, wo sie das Motiv typisch machen.
Zum Weiterlesen – und Mitmachen
📘 Kritzeln mit Herz
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Basis – Typische Silhouette – Kontraste.
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Fazit:
Unfertig ist kein Fehler. Es ist ein Stilmittel – und oft das stärkste.
Gönn dir den Freiraum. Probier es aus. Und schick mir gern deine Erfahrungen.
Ich bin gespannt, was bei dir sichtbar wird.